Interview: Berlinde De Bruyckere
Das Interview führte Teresa Bernauer, Theaterdramaturgin der Ruhrtriennale, am 24. Mai, 2024.
Dies ist die vierte Ausgabe Ihrer Ausstellungsreihe City of Refuge, nachdem Sie Ihre Arbeit zuvor an einem Ausstellungsort in Südfrankreich präsentiert haben, der auf den Überresten einer Templerorden-Siedlung aus dem 13. Jahrhundert errichtet worden war, anschließend im Diözesanmuseum Freising, in Süddeutschland, und kürzlich erst zur Biennale in Venedig in der Basilika San Giorgio Maggiore. Welche Verbindung geht Ihre Arbeit zu der Kulisse der Turbinenhalle hier bei der Ruhrtriennale ein?
Das ist eine sehr spannende Frage, denn in der vierten Ausgabe wird man sehen können, was es bedeutet, dasselbe Thema – das Thema Erzengel – an derart unterschiedlichen Orten zu zeigen. Was bedeutet die City of Refuge vor allem heute? Sie ist wichtiger denn je. So viele Menschen haben sich auf den Weg gemacht, fliehen vor Gewalt oder haben keine Heimat mehr. Das geht bis auf die Geschichte des Ruhrgebietes zurück, wo früh schon viele Einwander:innen angekommen sind, um zu arbeiten, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Alle diese Geschichten erzählen von denselben disruptiven Umständen: Man ist gezwungen, die Heimat zu verlassen, woanders zu arbeiten und Geld zu verdienen, weit weg von der Familie und allem Vertrauten. Da wird dir schnell die Bedeutung eines Ortes bewusst und was es heißt, mit deinem nahen Umfeld zusammen zu sein, mit den Menschen, für die du sorgst und die sich um dich kümmern und mit dir zusammenleben. Wenn man dieses ganze Hilfssystem hinter sich lässt – was macht das mit dir als Mensch?
Insbesondere in diesen Industriehallen. Ich kann mir vorstellen, dass das sogar noch mehr oder andere Bilder heraufbeschwört als an einem sakralen Ort wie in Venedig.
Absolut. Und wir können die Ruhrtriennale nicht mit all den anderen Orten vergleichen. Ich erinnere mich noch daran, als ich die Turbinenhalle für dieses Projekt zum ersten Mal betreten habe. Ich hatte sie schon vorher einmal besucht, diesen Raum jedoch nie in Hinblick auf eine Installation betrachtet. Es gab da diese zwei grünen Turbinen-Monster. Sie sind so gewaltig und die Tatsache, dass sie Energie erzeugen, ist sehr konkret: Sie strahlen Macht aus. Für mich besitzen sie dieselbe Kraft wie die Architektur von San Giorgio Maggiore. Das ist so überwältigend, man kommt nicht dagegen an. Man muss es hinnehmen und sehen, wie man sich selbst dazu in Beziehung setzt.
Der Song City of Refuge – im Original vom Wiseman Sextette, später von Nick Cave vertont – auf den sich der Titel Ihrer Arbeit bezieht, hat eine biblische Konnotation. Was an dieser Spannung zwischen dem Göttlichen und dem Profanen inspiriert Sie?
Obwohl der Song klar auf die Bibel anspielt, ist er auch tief verwurzelt im Leben und der dunklen Seite der menschlichen Natur – etwas, das über Zeit, Raum und Glaube hinausgeht. Da herrscht diese Kraft aus Wut, Angst und Hass und als Lösung darauf heißt es: Lauf, lauf, lauf! Durch diese Wiederholung und die Art, wie Nick Cave das singt, ist das für mich eher ein Aufruf, zu handeln, als ein Song. Ich vergleiche gerne die frühe Version dieses Songs von 1988 mit einer neueren Live-Version, die ich 2022 gehört hatte. Etwas hat sich über die Jahre verändert. Der Song scheint durchdrungen von Jahrzenten eines Lebens, das gelebt, und Kunst, die gemacht wurde. So als hätte er das Leben aufgesogen und versucht, Dinge zu verstehen, und jetzt gibt er etwas davon zurück, das direkt aus seiner Seele und seinem Bauchgefühl kommt – und nicht mehr aus seinem Kopf. Ich habe etwas ähnliches erlebt. Als ich an der Ausstellung für Freising – City of Refuge II – gearbeitet habe, habe ich mich entschieden, Arbeiten aus den späten 1980ern miteinzubeziehen, die ich gerade wiederentdeckt hatte. Das war die Zeit, in der ich gerade die Kunsthochschule beendet hatte. Schon damals war das Thema Engel/Flügel in meinen Zeichnungen, Kollagen und Skulpturen präsent, zwar auf eine eher abstrakte Art, jedoch das Konzept war schon präsent.
Die Beschäftigung mit Ihrer Frage nach dem Göttlichen und dem Profanen hat, meiner Meinung nach, viel damit zu tun, wie man aufwächst. Die Bibel und ihre Geschichten waren Teil meiner Erziehung. Das ist nichts, über das ich bewusst nachdenke, eher etwas, das ich versuche, zu verarbeiten und zurückzugeben – nicht als Übersetzung oder Beschreibung einer Bibelgeschichte, vielmehr indem ich mir ihren universellen Wert, ihr Abbild einer menschlichen Erfahrung, zu Nutze mache. Man kann sie leicht mit dem alltäglichen Leben und heutigen Problemen verknüpfen. Das Thema Engel hatte ich damals noch nicht in seiner Gänze erforscht. Dennoch gab es immer einen durchgängigen Faden. Während der Pandemie kam das Thema wieder an die Oberfläche und wuchs. Mein Leben zwischen den späten 1980ern und jetzt spiegelt sich in den Erzengeln wider.
Das kann ich mir vorstellen. Es steckt etwas unendliches darin…
Biblische Texte sind immer sehr vielschichtig und abstrakt. Eben diese Abstraktion macht sie für mich so interessant, auch dieses Geheimnisvolle: Es gibt immer ein Element, das man nicht richtig greifen kann. Sie sind ambivalent, bieten zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten und werfen Fragen auf. Das hat viel damit zu tun, dass wir uns nach Interpretationen sehnen. Da sehe ich eine Verbindung zu unserem Wunsch nach gottähnlichen oder mysteriösen Figuren, dem Wunsch unsere Gedanken, Wut und Ängste mitzuteilen, und die Dinge, die wir nicht begreifen, wie das Mysterium des Lebens. Obwohl diese Bibeltexte so alt sind, werden sie von vielen Leuten jede Woche in der Kirche gelesen, was schon fast zum Teil ihrer Gene geworden ist.
Es ist interessant, dass Sie sich entschieden haben, die Figur des Engels nochmals aufzugreifen, denn in Bezug auf das Göttliche existiert eine sehr reichhaltige Bildsprache. Können Sie mehr zu den Materialien, die Sie benutzen, sagen, und zu den Decken, die wir an den Engeln sehen?
Die Figur des Engels erscheint mir am geheimnisvollsten. Mit anderen Figuren aus dem Reich des Göttlichen zu arbeiten, ist weniger interessant. Ein Bild von Gott beispielsweise wäre zu abstrakt. Engel hingegen sind sehr menschlich. Sie sind die Bot:innen, die Arbeiter:innen des Himmels und darüber hinaus existieren sie jenseits der Geschlechter. Ich denke, wir können uns leichter mit ihnen identifizieren, weil sie weder männlich noch weiblich sind. Diese Abwesenheit von Sexualität erlaubt es uns, sie als geheimnisvolle und gleichzeitig einladende Wesen, anzusprechen. Engel werden mit positiven Eigenschaften in Verbindung gebracht. Wir nennen ja sogar Menschen, die etwas Gutes tun, einen „Engel“. Es ist nicht leicht, meine Engel anzusehen: Sie haben keine Gesichter und wirken auf den ersten Blick nicht wie traditionelle Engel. Ich hab darüber nachgedacht, was einen Engel zu einem Engel macht, wie beispielsweise Flügel. Meine haben keine Flügel, doch da ist die Verheißung, dass ihnen aus der Schulterrückseite einmal Flügel wachsen können, angedeutet durch eine Deformation unter dem Umhang, aus der vermeintlich Knochen hervortreten. Ich wollte es nicht so einfach machen und ihnen Flügel geben. Meine Engel müssen sich den Respekt verdienen. Sie sind dunkel und intim und werden oft sehr hoch oben ausgestellt. Man kann ihre Füße und ihre Bewegungen sehen – was einen zu der Frage verleitet, ob sie gerade losfliegen oder eben gelandet sind. Auch das trägt zu ihrem geheimnisvollen Wesen bei.
Abgesehen von den Füßen und den nackten Beinen, die wir als menschlich lesen, ist die Form ziemlich abstrakt. Die Materialien der ersten Erzengel sind Wachs und Tierhaar. Das Haar wurde zufälligerweise eingearbeitet, als ich die Silikonform von einem Kuhfell heruntergezogen habe, wobei etwas Haar darin hängen blieb. Die Technik, mit der ich Wachsskulpturen anfertige überträgt das Haar in das Wachs, sodass es im Endergebnis sichtbar wird. Für meine Skulpturen habe ich speziell nach Kuhfellen mit glänzendem schwarzen und weißen Haar gesucht, das auf Federn, Vögel und Engel verweist.
Was in dieser Unerreichbarkeit und Düsterheit Ihrer Figuren inspiriert Sie zur Hoffnung?
Für mich spielt die Art und Weise wie die Arbeiten hergestellt werden eine Rolle. Die meisten meiner Skulpturen entstehen aus einer gewissen Realität heraus. Ich modelliere die Form an einem toten Baum, einem Pferd, einer menschlichen Figur oder auf Haut. Das ist ein zeitaufwändiger, arbeitsintensiver Prozess: Man beginnt mit einem Objekt, wie z. B. einem toten Baum, bringt ihn ins Atelier, macht die Abformung, experimentiert mit Farben, bemalt das Wachs in der Silikonform, fügt die Wachsteile zusammen und verstärkt sie von innen. Dieser lange Prozess, von der Idee zum Ergebnis, besteht aus einer endlosen Reihe von Entscheidungen, sorgfältigen Auswahlprozessen und aus der Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Menschen. Jeder Arbeitsschritt lädt das Werk mit einer anderen Energie und mit neuen Bedeutungsebenen auf. Obwohl ich schwere Themen anspreche, versuche ich das unverhohlen brutale zu umschiffen. Natürlich ist das subjektiv. Manchmal kann Stille brutal sein. Trotzdem bemühe ich mich stets um die andere Seite – eine schöne Seite, die einlädt, sich damit auseinanderzusetzen, etwas zu berühren und zu fühlen. Die weichen Materialien, die ich benutze, das Wachs, die Decken, die Tierhäute, mildern den Einschlag ab. Die Menschlichkeit in meiner Arbeit bringt Hoffnung. Ich pflege eine besondere Beziehung zu Schönheit. Das, was ich als schön empfinde, können viele nicht nachvollziehen. Zum Beispiel liebe ich Blumen, die verwelken. Sie zeigen, dass ihr Leben endlich ist und dass sie viel früher als wir selbst vergehen werden. Für mich ist dieses Zeichen des Lebens wunderschön, andere jedoch finden es wesentlich ansprechender, wenn Blumen in voller Blüte stehen. Meine Arbeit konzentriert sich oft auf den Moment, in dem die Dinge enden und sterben können und ihren vermeintlichen Wert verlieren. Wie beispielsweise das Ruhrgebiet: Jetzt sind diese riesigen, wunderschön restaurierten Hallen der Ausgangspunkt für neue Schöpfungen, neue Energien. Als aber alles zerbombt war, gab es nichts.
Dem stimme ich zu. Es ist wichtig, die Vergänglichkeit von Dingen, Orten und Leben zu fühlen. Man sieht nicht nur eine Momentaufnahme der Zeit, sondern auch das, was vorher war und nachher kommen könnte.
Diese Idee ist mir sehr wichtig. Als ich diese „grünen Monster“ in der Turbinenhalle zum ersten Mal sah und gebeten wurde, für diesen Raum eine neue Arbeit zu erschaffen, hat mich der Ort und das, was schon da war, eingeschüchtert. Als Bildhauerin ist es anders, als mit Video zu arbeiten, wo es vielleicht leichter ist, auf große ‚Skulpturen‘, die schon im Raum stehen, zu reagieren. Die Vorstellung, City of Refuge wieder aufzugreifen und wie anders das werden könnte, brachte mich auf den Gedanken, eine Art Käfig um die Turbinen herum zu bauen. Dabei hatte ich eine Atmosphäre im Kopf, die an die Zeit erinnert, als die Fabrik noch in Betrieb war und sich Menschen darin bewegt haben – mit einer Leiter, einer Bank, einem Stuhl und anderen Komponenten. Ich wollte diese Aspekte wieder ins Bild rücken, wollte nicht nur die grünen Monster als skulpturale Elemente zeigen, sondern Einblicke in die Vergangenheit des Ortes gewähren. Ich dachte daran, meine Arbeit in einer Art Dunkelheit zu zeigen und eine geheimnisvolle Atmosphäre zu schaffen. Man stelle sich vor, man betritt abends eine Halle, in der nur ein Scheinwerfer leuchtet, der Licht und Schatten auf die Objekte in diesem Raum wirft. Dieser Ansatz würde ein Publikum anders einbinden. Die Menschen würden durch den Hintereingang in den Raum hineingeführt werden, würden die Treppen hinabsteigen und unmittelbar auf die erste Turbine treffen – umschlossen von einer Konstruktion aus Seilen und Eisen, einer Art von Zaun. Die Bedeutung des Zaunes hat sich weiterentwickelt. Er kann Räume erschaffen und teilen, Grenzen ziehen und hat oft Löcher, durch die die Menschen schlüpfen, um auf die andere Seite zu gelangen. Die Engel, die in dieser Konstruktion gefangen sind, offerieren eine neue Bedeutungsebene, einen neuen Bezug zum Thema Zuflucht. Diese Verknüpfung mit dem Konzept eines Zaunes kann Gewalt oder Schutz bedeuten. In einer Gießerei im schweizerischen St. Gallen wurden meine Bronze-Engel nachts eingezäunt, um sie vor Diebstahl zu schützen. Zäune können demnach eine positive oder eine negative Assoziation bewirken. Diese Ideen in der Turbinenhalle zusammenzubringen funktioniert meiner Meinung nach sehr gut.
Was sind Ihre Zufluchtsorte?
Ich habe drei Hauptzufluchtsorte. Der erste ist mein Atelier, denn es ist ein Privileg, als Künstlerin eine Begabung zu haben und damit zu arbeiten. Ich denke, damit geht eine Verantwortung einher, sie sinnvoll zu nutzen. Nicht im kommerziellen Sinn, eher indem man Arbeiten erschafft, die den Menschen helfen, Probleme anzugehen oder Fragen zu beantworten. Mein zweiter Zufluchtsort ist die Natur, insbesondere der Wald. Wenn mir das Atelier zu viel wird, gehe ich hinaus in die Natur, um den Kreislauf des Lebens zu spüren, den Geruch und die Schönheit der Bäume. Der dritte Zufluchtsort ist die Stille. Echte, absolut geräuschlose Stille bringt meine Gedanken zur Ruhe, entledigt sich vieler Dinge und erzeugt so den perfekten geistigen Zustand, um zu arbeiten.
Wen man diese komplexe und konfliktbeladene Zeit, in der wir leben, und das Motto des diesjährigen Festivals Longing for Tomorrow zusammendenkt – gibt es ein Morgen, nach dem Sie sich sehnen?
Die Geschichte wiederholt sich und indem ich älter werde – ich bin jetzt fast 60 – denke ich über meine 35 Jahre im Atelier nach. Obwohl meine Arbeit nicht offensichtlich politisch ist, schafft sie oft eine Verbindung zu Bildern und Geschichten aus Vergangenheit und Gegenwart. Ich ziehe meine Inspiration aus historischen Epochen, aus Quellen wie der Bibel, aus der Kunstgeschichte und der Mythologie, bis hin zur fernen Vergangenheit und Gegenwart mittels Zeitungen, Kino und den darstellenden Künsten. Dabei liegt der Fokus stets auf dem, was in dieser spezifischen Zeit gerade in der Welt geschieht, und wie sich das auf die menschliche Erfahrung bezieht. Als Obama Präsident der Vereinigten Staaten wurde, war das ein Moment der Hoffnung. Das hat sich großartig angefühlt. Mit Trump aber waren wir früher als gewollt wieder zurück auf dem Boden der Realität. Da wurde mir klar, dass wir nicht sicher sind. Es gibt so viel Gewalt und so viele Faktoren, die die Menschen dazu drängen, im Kriegszustand zu verharren oder neue Kriege anzuzetteln. Jetzt haben wir den Krieg in der Ukraine direkt vor unserer Haustüre. Nachrichten erreichen uns heutzutage unmittelbar. Als ich vor 30 Jahren an einem Kunstwerk gearbeitet habe, das sich mit dem Genozid in Ruanda beschäftigt, gab es nur ein paar Bilder in den Nachrichten oder Zeitungen. Heute haben wir alles auf unseren Handys, es wird überall geteilt. Diese Bilderflut und die andauernde Präsenz von Gewalt macht uns sehr verletzlich. Viele junge Menschen haben Schwierigkeiten, diese dauerpräsente Negativität zu verarbeiten. Viele brauchen psychologische Unterstützung, nur um ihr Leben weiterleben zu können. Was also ist die Zukunft, nach der ich mich sehne? Was Sie bei der Ruhrtriennale machen, ist etwas, nach dem wir uns sehnen sollten: Geschichtsträchtige Orte werden zu wunderbaren Räumen umgebaut, Orte, an denen die Menschen wieder verbunden sind. Unterschiedliche Religionen und Menschen aus aller Welt treffen aufeinander, Kunstwerke aus verschiedenen Ländern werden erstmalig gezeigt. Das bringt die Menschen wieder zusammen – selbst wenn sie keine Worte verstehen, wenn sie Stimmen lauschen, sehen, wie Instrumente gehalten werden, wie Musik gemacht wird. Ich glaube an die Energie, die frei wird. Wenn du die abstraktesten Dinge – Dinge, die du nicht verstehst – wertschätzt, dann macht dich das dafür offen, dein eigenes Leben und die Leben um dich herum zu hinterfragen. Für mich ist das eine wunderschöne Art und Weise, um mit den Schwierigkeiten unserer Zeit umzugehen – indem wir versuchen, uns zu verbinden.