Im Gespräch mit Kirill Serebrennikov – dem Regisseur des Stücks LEGENDE. Interview geführt von Teresa Bernauer – Schauspiel Dramaturgin der Ruhrtriennale 2024-26. 

Was hat dich dazu bewogen, dich mit dem Werk von Sergey Paradjanov zu beschäftigen? 

Paradjanovs Welt dient als Anlass, um mit dem Publikum über Kunst zu sprechen: Es sind ewige Geschichten über die Freiheit und den Kampf dafür, über die Schönheit, über den Sieg des Lebens über den Tod, aber – durch die Augen Paradjanovs gesehen. Sein Blick ist naiv wie der eines Kindes, er sucht in der ihn umgebenden Wirklichkeit nur die Schönheit. Was ist Schönheit für Sergey Paradjanov? Sie besteht aus den erstaunlichsten Dingen: osteuropäischer Stickerei, persischen Miniaturen, pompejianischen Mosaiken, Schwarz-Weiß-Stummfilmen, Erinnerungen an die Kindheit in Tiflis, bunten Träumen, Antiquitäten, Geheimnissen der Teppiche, der Musik Verdis, Puccinis und Massenets, den Liedern der Huzulen oder georgischen Volksliedern. All diese verschiedenen Elemente bilden einen explosiven Cocktail, eine Collage und verwandeln sich in das einzigartige Universum Paradjanovs. 

Manchmal erfordert Schönheit Leidenschaft, sogar Grausamkeit und oft ein Opfer. Man könnte so weit gehen zu sagen, das ganze Leben Sergey Paradjanovs war ein Opfer, das er brachte, damit die Welt so schön wie möglich wird. Er kämpfte für die Schönheit wie ein edler Ritter und fand sie dort, wo niemand außer ihm sie erkannte. Paradjanov wurde ins Gefängnis gesteckt, ihm wurde das Filmemachen verboten, aber selbst unter den unerträglichsten Bedingungen fand er Bruchstücke der Schönheit – auf Müllhalden, in Abfalleimern, auf Flohmärkten – und schuf daraus einzigartige Kunstwerke, seine Collagen. Heute befinden sie sich in einem Museum in Jerewan, das seinen Arbeiten gewidmet ist. 

Was inspiriert dich an seiner visuellen Sprache? 

Paradjanov wurde in Tiflis geboren, wohnte Jahrzehnte lang in Georgien, schuf ein Meisterwerk des nationalen Kinos von der Ukraine und von Armenien und blieb dabei sowjetischer Filmemacher und Häftling des sowjetischen Gulags. So war sein Leben. Da ihm als Künstler der Sowjetunion das Arbeiten allein nach den Vorgaben der nationalen Behörden erlaubt war, basierten seine Filme auf volkstümlichen Legenden, Märchen, Mythen… Auf den ersten Blick könnte der Eindruck ethnografischer Skizzen entstehen, aber das ist überhaupt nicht der Fall. Paradjanov drehte armenische, georgische oder ukrainische Epen, basierend auf seiner unbändigen Fantasie, und er erfand all diese Welten so überzeugend neu, dass die Zuschauenden nicht selten vom dokumentarischen Wert, vom Wahrheitsgehalt dieser freien Schöpfungen überzeugt waren. 

„Konfrontiert mit der völligen Unmöglichkeit zu leben und zu arbeiten, schuf Paradjanov erstaunliche Meisterwerke des Kinos.“
Kirill Serebrennikov

Paradjanov ist ein Künstler, ein Poet, der weniger mittels eines traditionellen Narrativs mit dem Publikum kommuniziert, sondern der das Visuelle bevorzugt. Seine Bilder sind stets lebendig, emotional, bedeutungsvoll und paradox, frei von Dogmen und Klischees. Genau in dieser unumschränkten Freiheit seines künstlerischen Genies lag der Hauptkonflikt Paradjanovs mit der sowjetischen Regierung. Er war dort frei, wo es keine Freiheit gab. Er erlaubte sich das zu tun, wovon andere nicht einmal träumten. Konfrontiert mit der völligen Unmöglichkeit zu leben und zu arbeiten, schuf er erstaunliche Meisterwerke des Kinos, und ich bin mir sicher, dass Paradjanov, wenn er ohne Einschränkungen außerhalb der Sowjetunion hätte drehen können, genauso berühmt geworden wäre wie seine Zeitgenossen Pasolini, Fassbinder und Fellini. 

In LEGENDE gibt es viele visuell auffällige Motive: der unlustige Narr, Diven in Pelzmäntel, eine Fülle von jungen Werther - die in traumhaften und surrealen Sequenzen miteinander verwoben werden. Kannst du beschreiben, wie du diese zusammengebracht hast? 

Das kann ich nicht erzählen, du musst dir das anschauen!  

LEGENDE ist kein Biopic im engeren Sinne. Ich schrieb vielmehr ein Stück, das aus zehn Teilen – zehn Legenden – besteht, die sich mit den Fragen des Zusammenlebens von Künstler und Welt, von Mensch und Universum beschäftigen. Jede der zehn Legenden behandelt ein Thema, das Paradjanov umtrieb; die Hauptfigur des Stücks ist zugleich eine Allegorie des Menschen, Künstlers, Poeten, Wanderers, Kämpfers, Rebellen… 

Wir reproduzieren nicht die Bilder aus seinen Filmen, sondern eignen uns seine Methode an – diese totale Collage, dieses Gesamtkunstwerk - um die zehn Legenden zu erzählen und auf die Bühne zu bringen. Wenn es uns gelingt, gibt es am Ende ein Mysterium von Leben und Tod. Dazu gehören auch wunderschöne Lieder, die Daniil Orlov, unser Komponist, basierend auf Gedichten von Walt Whitman komponiert hat.

Tod, Trauer und den unerträglichen Zustand der Welt spielen auch eine Rolle. Dabei gibt auch einen hoffnungsvollen Ansatz: was bedeutet es für dich, das auf die Bühne zu bringen? 

Die Szene auf dem Friedhof ist die lustigste! Es geht darum, dass am Ende alles doch nicht so schrecklich ist. Weil wenn wir nach Schönheit und Liebe in unserem Leben suchen dann ist alles eigentlich nicht so schlimm wie gedacht. Und das gibt Hoffnung. 

Es geht auch viel um Mehrsprachigkeit. Zwischen verschiedenen Sprachen, Kulturen, Räumen und Zeitlichkeiten unterwegs zu sein, ist auch ein Zustand, der in deinem Leben sehr präsent ist. Was ermöglicht diese Perspektive in deiner Arbeit? 

Ich finde, dass das der interessanteste Zustand ist, dieses Dazwischen sein. Zum Beispiel du, als halb Portugiesin, halb Deutsche, hast die Möglichkeit aus einer Distanz zu blicken, sowohl auf die deutsche als auch die portugiesische Kultur. Du hast dieses Privileg dazwischen zu sein, und nicht einen Tunnelblick zu haben. In Russland gibt es ein Gedicht, in dem es steht, „dass Größte sieht man nur aus der Distanz“. Die Möglichkeit, eine Distanz zu haben, tut der Arbeit sehr gut. Deswegen gefällt es mir, dass wir in verschiedenen Sprachen arbeiten. Wenn wir diese Sprachen auseinandernehmen, verstehen wir auch ganz viele interessante Dinge aus den Kulturen dahinter. Wir haben ein Stück auf Russisch geschrieben, es ist auf Deutsch übersetzt worden. Wir spielen auf Deutsch. Das ist was ganz anderes als das, was ich auf Russisch geschrieben habe. Deswegen nochmal – Paradjanov auf Deutsch übersetzt wird zu Heiner Müller! … Also nicht direkt das, aber im übertragenen Sinnen, es trägt eine ähnliche DNA. 

„Ein Theaterbesuch ist eine Art Eskapismus vor dem, was uns droht. Es gibt keine guten Nachrichten – Was die Klimakrise angeht oder Krieg, es gibt nichts Gutes. Die Welt ist im Arsch, sie ist verrückt geworden.“
Kirill Serebrennikov

Das Motto von dieser Edition der Ruhrtriennale ist Longing for Tomorrow. Gibt es einen Morgen danach du dich sehnst? 

Man könnte von mir erwarten, dass ich jetzt etwas Optimistisches sage, aber wenn ich die Nachrichten lese, sehe ich mir lieber die Filme von Paradjanov an, um diese Nachrichten schneller zu vergessen. Ein Theaterbesuch ist eine Art Eskapismus vor dem, was uns droht. Es gibt keine guten Nachrichten – Was die Klimakrise angeht oder Krieg, es gibt nichts Gutes. Die Welt ist im Arsch, sie ist verrückt geworden. 

Du spielst mit unseren Erwartungen, es gibt Umkehrungen der Bilder, Machtpositionen werden in Frage gestellt. 

Paradjanov war weithin bekannt für seine exzentrischen Auftritte, fantastischen Improvisationen, paradoxen Aussagen und veritablen Skandale. Obwohl es in seinen Filmen keine politische Ebene gibt, darf Paradjanov als der anti-sowjetische Künstler schlechthin gelten, da seine Ästhetik, seine Freiheit und Kühnheit das gesamte sowjetische System, das auf allumfassender Angst aufgebaut war, entwertete. All diese sowjetischen Bürokraten mit ihren grauen, ausdruckslosen Gesichtern wussten einfach nicht, was sie mit ihm machen, wie sie ihn zum Schweigen bringen sollten. Paradjanov versuchte im Gegensatz zu Tarkowski nicht einmal, sich mit dem Regime zu arrangieren. Er benahm sich – in den Augen der Behörden – wie ein »Stadtnarr«, der gefährlichste Typ Künstler für jedes politische System. Das hatte für ihn schwerwiegende Konsequenzen: Jahre in sowjetischen Gefängnissen, erfundene Anklagen wegen Antiquitätenhandels und Homosexualität, die dem sowjetischen Recht nach verboten war. Dank des Eingreifens der internationalen Öffentlichkeit, von François Truffaut bis Louis Aragon, konnte Paradjanov befreit werden, aber erst kurz vor seinem Tod. 

Termine und Tickets
August

Autor: Teresa Bernauer | 8.8.2024