Ein Gespräch mit Krystian Lada, Regisseur der Musiktheater-Installation Abendzauber und Programmdirektor des künstlerischen Programms der Ruhrtriennale 2024-26. Das Interview führte Deniz Bolat aus dem Dramaturgie-Team des Festivals. 

Was hat Dich dazu inspiriert, Werke von Anton Bruckner und Björk zusammenzubringen? 

Am Anfang dieses Projekts standen eigentlich Bruckners Chorkompositionen. Oft denken wir an Bruckner als den Konstrukteur gewaltiger symphonischer Gebilde. Umso überraschter war ich, als ich seine zerbrechlichen A-cappella-Stücke für Chor entdeckt habe, die selten aufgeführt werden. Was mich bei seinen Kompositionen fesselte, war nicht nur dieser hochromantische Ausdruck seiner Musik, sondern auch die Poesie, die er benutzte. Diese Texte beschreiben auf sehr detaillierte Art die körperliche und emotionale Erfahrung, in der Natur zu sein. Aus unserer Perspektive im 21. Jahrhundert ist die Erfahrung, die Natur zu erleben, rar geworden – als Folge einer urbanen Lebensweise und begrenzter Zeit, um der Stadt zu entfliehen. Heute schafft es das Thema Natur häufig nur im Kontext von Naturkatastrophen in die Nachrichten. Bruckners Werke haben mich angesprochen als ein unverfälschter flüchtiger Blick auf das, was unsere Zukunft sein könnte: eine Zeit, in der wir die Natur vielleicht nicht mehr so erleben wie bisher. In dieser apokalyptischen Vision könnten Bruckners Stücke eine Zeitkapsel sein, die eine spirituelle und aktive Naturerfahrung konserviert. Bei der Beschäftigung mit dieser Idee dachte ich ganz selbstverständlich an die Songs von Björk. Björk erforscht beständig die Beziehung zwischen Mensch und Natur, wobei sie die unmittelbare Stimme der Natur selbst einbringt. In ihrem Werk spricht die Natur nicht nur zu uns, sie drückt auch Wut und Schmerz aus und fordert eine andere Beziehung ein. So kam die Verbindung zwischen Bruckner und Björk zustande. Weil ich bereits eine Oper, die auf Björks Album Medulla basiert, in Brüssel mitkreiert hatte, war ich mit ihrer musikalischen Sprache vertraut. Zur selben Zeit suchte ich als Programmdirektor der Ruhrtriennale nach etwas für CHORWERK RUHR, das den üblichen Rahmen verlässt. Darum war meine Beschäftigung mit diesen beiden Komponist:innen sowohl eine natürliche Entwicklung als auch eine pragmatische Entscheidung, um Vielfalt ins Repertoire zu bringen. 

Wie beeinflusst die industrielle Kulisse der Mischanlage Deine Inszenierung?

Das Gebäude der Mischanlage war für die Programmgestaltung von 2024 essentiell. Mir wurde klar, dass wir ein Projekt brauchen, das die Architektur unserer Spielstätten als Ausgangspunkt nimmt und Gerard Mortiers Vision von „Schöpfungen“ reflektiert – interdisziplinäre Arbeiten, die sich mit dem Raum und der Geschichte der Gebäude auseinandersetzen. Die Mischanlage ist ein Industriedenkmal. Sie wurde gebaut, um die Natur zu zähmen und aus ihr Kapital zu schlagen, indem sie Kohle verarbeitet. Sie symbolisiert den Versuch des Menschen, die Natur zu beherrschen und auszubeuten. 

Steht man in diesem Gebäude, kann man seine unruhige Vergangenheit in den Betonmauern und den verrosteten Metallteilen fühlen. Es ähnelt einem Schlachthaus und steht für Transformation – ein Vorgang, bei dem man die rohe Natur in etwas für den Menschen nutzbringendes umwandelt, was jedoch im selben Augenblick zu einer Waffe gegen die Natur selbst wird. Diese Brutalität und Transformation macht es zu einer idealen Bühne für die Inszenierung von Abendzauber als einer Installation, die mit der Architektur und der Geschichte der Mischanlage in einen Dialog tritt und deutlich macht, dass man einen fortlaufenden Prozess verändern und neu gestalten kann.

„Ich möchte das Publikum dazu einladen, sich durch die Mischanlage zu bewegen, beginnend mit der spätromantischen Perspektive des 19. Jahrhunderts auf die Natur als einem Spiegel der menschlichen Seele und einer Quelle der Inspiration. Im weiteren Verlauf des Stücks trifft das Publikum dann auf unsere heutige Realität: eine Natur, die längst nicht mehr erhaben, sondern tobend und tosend ist – die an der Klimakatastrophe leidet.“
Krystian Lada

Du hast bereits die Rolle der Natur in Deinem Projekt erwähnt. Wie bindest Du dieses Thema in die Inszenierung ein? 

Ich konzentriere mich auf die menschliche Erfahrung der Natur und wie wir mit ihr Kontakt aufnehmen. Ich möchte das Publikum dazu einladen, sich durch die Mischanlage zu bewegen, beginnend mit der spätromantischen Perspektive des 19. Jahrhunderts auf die Natur als einem Spiegel der menschlichen Seele und einer Quelle der Inspiration. Im weiteren Verlauf des Stücks trifft das Publikum dann auf unsere heutige Realität: eine Natur, die längst nicht mehr erhaben, sondern tobend und tosend ist – die an der Klimakatastrophe leidet. Unsere Arbeit beschäftigt sich damit, wie wir als Zivilisation die Natur für unsere eigenen Zwecke verraten, missbraucht und kolonisiert haben. Sie betont die dringende Notwendigkeit, sich der Natur anzunehmen, selbst wenn das bedeutet, dass wir die Art, wie wir unsere Gesellschaft gestalten, neu denken müssen. Diese Reise durch das Gebäude steht für die Transformation unserer Beziehung zur Natur, die sich von der romantischen Idealisierung hin zur Anerkennung unserer gegenwärtigen Krise bewegt.

Kannst Du den kreativen Prozess hinter der Entwicklung der Installation in einem so einzigartigen architektonischen Raum umreißen? 

Als Bühnenregisseur arbeite ich immer vor Ort, das heißt, ich gehe auf die Architektur ein, auf die institutionelle Struktur oder den historischen Kontext. Bei dieser Produktion waren drei Aspekte ausschlaggebend. Erstens: der Kontext der Ruhrtriennale, die aus Mortiers Vision heraus entstanden ist, neue Formen von Musiktheater zu erschaffen, die mit der Architektur und der Geschichte des Raumes kommunizieren. Zweitens spielte künstlerische Intuition eine bedeutende Rolle. Bruckners verstaubte Partituren zu entdecken und sie intuitiv mit Björks Schaffen zu verknüpfen, war eine Reise ähnlich der eines Waldspaziergangs angetrieben von einer Intuition.  

Der dritte Aspekt ist die kollektive Arbeitsweise, die ich mit meinem Team pflege. Obwohl wir alle spezifische Rollen einnehmen, trägt jede:r etwas zum konzeptionellen, kreativen Input bei. Diese wechselseitige Abhängigkeit von verschiedenen Kunstformen, bei der Lichtdesign, Bühnenbild, Choreographie und Musik untrennbar zusammenhängen, macht Opernarbeit so einzigartig.  

Außerdem ist es unser Ziel, analoge Erlebnisse im Theater zu erschaffen, die, verglichen mit digitalen Kunstformen, einmalig und idiomatisch sind. So eine Herangehensweise erschwert eine Videoaufzeichnung oder Fotoaufnahmen von dem Stück. Sie betont die Notwendigkeit, im „Hier und Jetzt“ dabei zu sein, um das Stück zu erleben – ganz wie bei einer unmittelbaren Naturerfahrung.

Wie hast Du die weiteren Mitglieder des künstlerischen Teams für dieses Projekt ausgewählt? 

Man braucht ein Dorf, um neue Arbeit zu erschaffen. Zuerst versammle ich ein Dorf, wobei ich oft Menschen aus vorangegangenen Kollaborationen dazu hole. Viele aus dem Kreativteam kommen aus den Strukturen der Ruhrtriennale selbst. Ich glaube daran, ein bereits bestehendes Team kreativ einzubinden und ihre Expertise und ihr Talent zu nutzen. Anstatt beispielsweise eine:n externe:n Kostümbildner*in mitzubringen, arbeite ich mit dem betriebseigenen Team zusammen. So unterstütze ich eine nachhaltige Produktionsweise, indem ich von verfügbaren Ressourcen Gebrauch mache.  

„Ich glaube nicht daran, das Publikum zu belehren. Mein Ziel ist es, ein Erlebnis zu erschaffen, das viszeral, körperlich und sinnlich ist – nicht ausschließlich intellektuell.“
Krystian Lada

Wie koordinierst Du die Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Mitgliedern des künstlerischen Teams?  

Ich bereite mich im Vorfeld umfassend vor. Das schließt ausführliche individuelle Diskussionen und Experimente ein. In einer Szene zum Beispiel kommen verschiedene Gerüche aus der Natur vor. Dafür war es nötig, mehrere Tage in einem Parfüm-Atelier zu verbringen, um die Düfte zu verstehen und zu entwickeln. Dieser Mikro-Fokus auf Details wird ausgeglichen durch eine Makro-Perspektive und sorgt so für die Gesamtstruktur und die Stimmigkeit der Arbeit.  

Ich passe mich auch an die Arbeitsweisen der Team-Mitglieder an und fördere so den Dialog zwischen ihren Arbeitsprozessen und meiner Routine. Dieser kollaborative Ansatz ermöglicht Flexibilität und Innovation und sorgt dafür, dass die Expertise und Kreativität aller Team-Mitglieder in das Endergebnis mit einfließen. 

Wie war der Arbeitsprozess beim Arrangement der Björk Songs für CHORWERK RUHR? 

Die Musik von Björk ist idiomatisch und oft für spezifische Stimmen komponiert, darum haben wir die Arrangements für den Chor in Auftrag gegeben. Dafür haben wir uns Marc Schmolling ausgesucht, der CHORWERK RUHR gut kennt, und Caroline Shaw, die Björks Musik im Innersten versteht. Carolines Kompositionsweise ist der von Björk ähnlich. Sie arbeitet viel mit Improvisation und mit speziellen Stimmen. Diese Kollaboration vereinigt verschiedene Traditionen des stimmlichen Ausdrucks und erweitert das musikalische sowie künstlerische Spektrum von CHORWERK RUHR. 

Welchen Herausforderungen bist Du begegnet, als Du Chor- und Popmusik miteinander verbunden hast? 

Überraschend wenigen. Oft liegt die Herausforderung nicht so sehr in der Musik selbst, sondern darin, wie die Menschen die musikalischen Genres wahrnehmen. Björks Musik hält jeglicher Kategorisierung stand. Sie verschmilzt Elemente aus Popmusik, Weltmusik und erweiterten Vokaltechniken. Als Opernregisseur geht meine Faszination für den stimmlichen Ausdruck über diese Kategorien hinaus. Die Macht der menschlichen Stimme, ihre physikalischen Wellen und die emotionalen Reaktionen, die sie auslöst, sind essentiell für mein Schaffen. Darum hat es sich vollkommen natürlich angefühlt, Björks Musik in den Chor-Kontext einzubetten – über sämtliche künstliche und starre Genregrenzen hinaus. 

Was, hoffst Du, nimmt das Publikum von Abendzauber mit? 

Ich glaube nicht daran, das Publikum zu belehren. Mein Ziel ist es, ein Erlebnis zu erschaffen, das viszeral, körperlich und sinnlich ist – nicht ausschließlich intellektuell. Ich hoffe, diese Installation regt zu Fragen über unsere Beziehung zur Natur an. Das Stück sollte einen Kontext bieten, um unser Zusammenwirken mit der Natur aus anderen Blickwinkeln zu betrachten und zu überdenken, um den Fokus auf das zu legen, was wir der Natur antun, was wir von ihr erwarten und was die Natur von uns erwarten kann. 

Ich möchte für das Publikum einen Kontext schaffen, um darüber nachzudenken, inwiefern wir ein Teil der Natur sind und wie diese Distanz, die wir zu ihr haben, uns auch von uns selbst entfremdet. Diese Arbeit ist eine Einladung, sich von einem Ego-System hin zu einem Öko-System zu entwickeln: eine Einladung, die anthropozentrische Perspektive auf die Natur – eine Perspektive, in der wir die Natur beherrschen – hinter uns zu lassen und unsere Rolle und Verantwortung als Teil eines größeren Ökosystems zu erkennen.

Autor: Deniz Bolat | 31.7.2024