Inside Ballroom
Georgina Philp aka Legendary Mother Leo Saint Laurent und das House of Saint Laurent über Ballroom
In diesem Interview spricht Georgina Philp alias European Mother Leo Saint Laurent mit drei internationalen Mitgliedern des Hauses „House of Saint Laurent“ – Nekia Zulu Saint Laurent (USA), Tropikahl Ivy Saint Laurent (CH) und Litchi (DEU) – über die internationale Ballroom Community, über Pop-Kultur, Mainstream-Einflüsse und die wichtige Perspektive non-binärer Personen innerhalb der Ballroom-Szene.
Vielen herzlichen Dank, Nekia, Ivy und Litchi, dass ihr gekommen seid. Zu Anfangs, könntet ihr euch einmal vorstellen? Wer seid ihr und wie seid ihr zum ersten Mal mit der Ballroom-Szene in Berührung gekommen?
Nekia Saint Laurent: Ich heiße – lasst es mich dramatisch machen – Nekia Miss Rahi Garcon Saint Laurent, in der Kiki-Szene bin ich Nekia Marciano Alhana Juicy Couture Versace und ich habe im Sommer 2019 – ganz genau – zum ersten Mal einen Ballroom betreten mit dem House of Ms. Rai. Ich bin den Runway gelaufen und habe performt und an meinem ersten Abend gleich $ 1000 in der Kategorie Runway gewonnen. Danach habe ich aufgehört, Runway zu laufen, und mit dem Voguing begonnen. Seitdem reise ich damit herum.
Ich frage mich, ob du nochmal zu Runway zurückkommst.
NSL: Ich möchte schon, aber das Timing hat nie richtig gestimmt. Obwohl seit kurzem wieder die richtige Zeit scheint, Runway zu machen. Ich wurde professionell für Modenschauen gebucht und das hat mich irgendwie in die Ballroom-Szene zurückgeführt. Man kannte mich bereits als Model, darum wollten die Leute immer, dass ich Runway laufe. Jetzt, wo ich wieder mit dem Modeln angefangen habe, werde ich immer entspannter und souveräner. Ich denke, irgendwann komme ich wieder an den Punkt, wo ich im Ballroom Runway laufe. Alles kehrt irgendwann zu seinem Ursprung zurück.
Außerdem lieben wir deine Performance und möchten sie nicht missen. Danke. Litchi, was ist mit dir?
Litchi: Also, ich bin Litchi. Ich bin vieles. Ich bin Tänzerin, Künstlerin und ich kuratiere und produziere auch. Ich habe also, so wie einige, viele Hüte auf. Wie habe ich Ballroom gefunden oder wie fand Ballroom mich? Ich hab schon vorher getanzt, HipHop, Locking und so was. Dann hab ich Breakdance gemacht. Ich mochte es sehr, aber mir hat das Umfeld nicht so gut gefallen. Wie viele Leute bin ich über den Tanzunterricht zum Voguing gekommen. Ich habe es durch Bewegungen kennengelernt und bin dann zum Mittwochs-Training gegangen. Ich hab einfach Leute getroffen. Ich weiß nicht mal mehr, wie ich zum New Way gekommen bin – weil Christopher New Way gemacht hat und mehr gab es zu der Zeit in Berlin nicht. Aber ich bin dabei geblieben, weil ich auch außerhalb des Trainings Freunde gefunden hatte, was es bei Breakdance und HipHop so nicht gegeben hatte. Das war um 2017, 2018 herum. Ich glaube, 2018 hab ich mich dann intensiver damit beschäftigt.
Danke, Litchi. Ivy, The Trailblazer, was ist mit dir?
Tropikahl Ivy Saint Laurent: Gut, also… Mein Name ist Tropikahl Ivy St. Laurent, The Major. Wie Nekia teile ich hier meine Geschichte. Ich war die Trailblazer Founding Mother des Kiki House B. Poderosa und ich war Pionierin in der Schweiz, komme aber ursprünglich aus Brasilien. Mein Ziel war es, Elemente der brasilianischen Kultur mit der hiesigen Ballroom-Szene zu verschmelzen und einen Raum für die Mädchen zu schaffen. Ich habe 2017 angefangen, in Brasilien herum zu recherchieren und dann die Szene an der US-amerikanischen Westküste erkundet. Ich bin viel herumgereist, immer respektvoll und zurückhaltend, und trotzdem habe ich große Wellen geschlagen. Und hier sind wir jetzt, nach all der Zeit.
Und wie wir hier sind! Das stimmt. Könntet ihr beschreiben, was Ballroom für euch persönlich bedeutet oder was es so besonders für euch macht? Denn ich denke, wir alle sind mitunter ziemlich leidenschaftlich dabei.
L: Es macht unglaublich viel Freude. Trotz des ganzen Dramas macht es einfach Spaß. Man kann auf so viele Arten kreativ sein – nicht nur mit Bewegungen. Man kann so viele verschiedene Dinge nutzen und genau das ist so besonders am Ballroom verglichen mit anderen Kulturen. Manchmal ist es nicht ganz leicht, zu beschreiben, was mich daran anzieht, aber es hat etwas stark magnetisches. Ich bin ziemlich introvertiert, aber in meiner Kategorie – New Way – kann ich wesentlich offener sein. Viele Leute, die New Way machen, sind wie ich. Das gibt mir das Gefühl, dass ich mich so bewegen kann, wie ich will – obwohl es Zeit gebraucht hat, an diesen Punkt zu kommen. Ballroom beeinflusst auch mein tägliches Leben. Es ist völlig anders als andere Kulturen oder Räume. Es geht viel ums Lehren und Lernen und am allerwichtigsten: Es bringt Spaß und Freude.
NSL: Für mich ist Ballroom wie der Labortisch eines Alchemisten. Dort kann ich all das kanalisieren, was mir im Privatleben passiert, und es in etwas positives verwandeln. Ob mich starke Wut oder Frust plagen – ich kann diese Gefühle beim Ballroom rauslassen und danach fühle ich mich besser. Oder, wenn ich für Performances oder Tanz-Gigs gebucht werde, nutze ich Ballroom, um wieder ins Voguing reinzukommen und Selbstvertrauen zu tanken. Ballroom war für mich immer ein Raum, der mich als Individuum wachsen ließ, selbst außerhalb der Ballroom-Szene. Das ist wie ein Cheatcode, um die Herausforderungen des Lebens zu meistern. Es ist eine fantastische Methode, um sich selbst zu stärken und viele Aspekte im Leben zu verbessern.
Nicht übel.
TISL: Wie war nochmal die Frage, Mutter? So ungefähr?
Also entweder: Was bedeutet Ballroom für dich persönlich? Oder: Was macht Ballroom in deinen Augen so besonders?
TISL: Ballroom nimmt einen wichtigen Platz in meinem Leben ein. Und manchmal kann es mich – als Vorreiterin – auch überfordern. Ganz ehrlich: Es ist sehr anspruchsvoll, Menschen zu unterrichten und die permanenten Fragen und Ansprüche zu bewältigen. „Kannst du unterrichten? Kannst du das nochmal erklären? Kannst du das leichter verständlich machen?“ Das ist viel, was man da stemmen muss, und lässt mitunter nur wenig Platz für mein eigenes Wachstum. Ich habe lange gebraucht, um da anzukommen, wo ich jetzt bin. Doch trotz der Herausforderungen ist Ballroom etwas, von dem ich nicht loskomme. Es ist, als hätte man etwas kostbares geerbt. Man fühlt eine Verantwortung, darauf achtzugeben. Ich liebe es, denn es ist eng verbunden mit den Menschen, die mir wichtig sind: mit meiner Familie und meiner Community. So gehe ich die Dinge an. Das ist Teil meiner Identität. Ich habe mich 2017 in Ballroom verliebt und konnte mich seitdem nicht mehr davon trennen. Sollte ich die Ballroom-Szene jemals verlassen, dann entweder, weil ich mich komplett von mir selbst entfremdet habe, oder, weil ich nicht mehr am Leben bin. Es gibt keine Ivy ohne Ballroom. Das ist ein riesengroßer, unersetzbarer Teil meines Lebens.
Vielen Dank. Ich stimme dir zu. Es braucht sehr viel Zeit. Und sehr großen Einsatz. Aber es ist einfach etwas, von dem man sich oder ich persönlich mich nicht fernhalten kann.
NSL: Ich glaube, bestimmte Menschen, wie z. B. meine Schwester und ich, sind einfach zu Ballroom berufen. Wir sprechen oft darüber, wie manche Leute zu Ballroom kommen und andere einfach ganz natürlich davon angezogen werden. Wenn man wirklich zu Ballroom berufen ist, dann ist dieser Teil untrennbar mit dir verbunden. Selbst wenn ich mal eine Pause davon machen will – irgendetwas zieht mich wieder dorthin zurück. Entweder bucht man mich für einen Gig oder ich spüre den Drang, wieder auf Bällen zu laufen. Ballroom ist viel mehr als ein Wettbewerb. Es ist in erster Linie eine Community. Die Menschen und die Community sind extrem wichtig – und genau das macht es so schwer, sich davon zu distanzieren. Die einzig wirkliche Pause davon machst du, wenn du dieses Leben hinter dir lässt, und selbst dann ist es wahrscheinlich, dass sie Bälle zu deinen Ehren nach dir benennen. Darin liegt die Schönheit von Ballroom. Es ist eine lebenslange Bindung und sie begleitet dich, egal was passiert.
TISL: In die Community abtauchen… (tanzt)
NSL: (lacht) In so eine Community abtauchen – da stellt sich mitunter die Frage: Was macht Ballroom so speziell? Ich möchte das wirklich gerne beantworten, weil Ballroom einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen einnimmt. Der wichtigste Aspekt, der Ballroom so besonders macht, ist zunächst die Verwurzelung in einer Community. Vor allem jetzt, da sich Ballroom auf Städte wie New York ausgeweitet und es sogar nach Deutschland geschafft hat. Wir sind überall. Dieser Community gehören unglaublich talentierte und inspirierende Individuen an. Uns alle verbindet die gemeinsame Liebe zum Wettbewerb und die reichhaltige Geschichte der Ballroom-Kultur. Es ist unglaublich schön, wenn dir bewusst wird, wie viele Menschen unterschiedlichster Herkünfte durch Ballroom zusammenkommen. Ob das jetzt jemand ist, die:der im Umfeld des Weißen Hauses politisch tätig ist, ein:e Star Stylist:in oder ein:e Regisseur:in, die Performances choreographiert – im Alltag spielen wir alle andere Rollen. Und trotz unserer verschiedenen Lebensstile kommen wir beim Kiki zusammen, feiern und unterstützen uns gegenseitig. Diese Verbindung macht Ballroom so ungemein schön.
Auf jeden Fall. Ja, das ist Ballroom für dich (lacht).
NSL: Ganz genau, das ist Ballroom.
Als eine Person, die Räume für die Community organisiert und Events plant – sowohl innerhalb wie auch außerhalb der Ballroom-Szene – was ist dir an dieser Arbeit am wichtigsten?
L: Mir geht es darum, von den Institutionen, die uns buchen, Gleichbehandlung einzufordern. Ich will sie daran erinnern, dass es hier um Individuen geht und nicht darum, eine Kultur vorzuführen. Die Performance findet meist eher für die Community als für das Publikum statt. Außerdem halte ich es für essentiell, das Fundament, das von unseren Vorgänger:innen aufgebaut wurde, anzuerkennen und all die Dinge festzuhalten, die nicht über diese Kultur dokumentiert worden sind. Darüber hinaus ist es sehr wichtig, zu wissen, wann ich einen Schritt zurücktreten und zwischen dem, was ich erreichen kann, und dem, was ich nicht schaffe, priorisieren muss. Und das ist etwas, das dir die Arbeit für die Community nur selten beibringt.
Was sind die Glücksmomente und was die Schwierigkeiten, denen du als Organisatorin begegnest?
L: Am meisten genieße ich die kleineren Events, wie beispielsweise die Partys an der Volksbühne, im Hotel, wo es mehr darum geht, zusammenzukommen, als zu posen. Unser Kiki-Ball, der auch eher klein war, hat mehr Spaß als Stress gebracht. Ich bin Perfektionistin, darum fühle ich bei größeren Veranstaltungen auch mehr Verantwortung. Ich mag es auch, zu trainieren und zu sehen, wie wir uns alle weiterentwickeln und verbessern. Mit Leuten zu trainieren und Fortschritte zu sehen, ist etwas, das mir wirklich viel gibt. Außerdem bedeutet mir der Gemeinschafts-Aspekt – dass wir alle zusammenkommen können – sehr viel.
Denkt mal an die Zukunft und beantwortet dann eine dieser beiden Fragen: Wo seht ihr Ballroom in zehn Jahren? Oder: Welchen Zuspruch oder welchen Rat würdet ihr einer Person geben, die in zehn Jahren der Ballroom-Szene beitritt? Eine Zeitkapsel in die Zukunft.
NSL: Oh, nein, das ist eine schwere Frage.
Ich hab mir auch überlegt, was ich darauf antworten würde. Tatsächlich können wir gar nicht wirklich sagen, wohin die Reise gehen wird, weil ich mir gar nicht richtig vorstellen kann, wo die Menschheit in zehn Jahren stehen wird.
NSL: Eine Sache, die ich über Ballroom denke, ist: Es könnte in zwei unterschiedliche Richtungen gehen. Wir meinen vielleicht, dass wir mitten drinstecken, aber ich glaube, wir entwickeln uns noch zu einem Mainstream-Phänomen. Das Engagement für Ballroom wird wieder Mainstream und wenn die Geschichte sich wiederholt, dann wird das auch passieren und dann ist es nicht mehr so angesagt. Dann ziehen wir uns wieder in den Underground zurück und tun das, was wir immer getan haben oder so. Ein Teil von mir, der vielleicht gerne rummeckert, sagt, dass das durchaus passieren kann, und findet es vielleicht gar nicht so schlecht, wieder Underground zu sein. Ein anderer Teil aber denkt, dass wir in Zeiten von Sozialen Medien und Talenten gerade ein Allzeithoch erleben und jede:r seine:ihre Chance nutzen kann. In Sachen Talente und all dem, was wir in Ballroom einbringen, glaube ich, dass Ballroom nie wieder so eine Underground Ding sein wird, wie es das früher einmal war. Ich denke wirklich, dass es weiter mit der Welt wächst. Vielleicht werden wir das fucking Metaverse des Voguing sein und uns prächtig amüsieren. Es ist wirklich schwer, das vorherzusagen, denn Ballroom war bislang nur dieses Mysterium, das in einer Gesellschaft etwas bewegen konnte – sowohl im Mainstream als auch in der Modewelt. Es hat verändert, wo die Leute in der Branche ihre Inspiration hernehmen: entweder von den Menschen im Ballroom oder von dem, was wir beim Ballroom machen. Darum, Honey, kann es von hier nur noch aufwärts gehen.
L: Es ist wichtig, sich selbst treu zu bleiben und ehrlich zu sich zu sein. Ballroom kostet viel Energie und ist unberechenbar. Du bist gezwungen, zu lernen, ehrlich zu dir selbst zu sein. Ballroom ist ein einzigartiger Ort, insbesondere für queere und trans Personen sowie BPoC in Europa. Trotzdem sollte man immer im Kopf haben, dass sich die Szene aus Menschen zusammensetzt, die alle ihre persönlichen Probleme haben. Diese Kultur ist kein fertiges Produkt, sie entwickelt sich konstant weiter. Es ist wichtig, zu akzeptieren, dass sich die Dinge verändern, und man stets die eigene Beziehung zu Ballroom neu verhandelt. Ich glaube, in zehn Jahren wird sich alles immer weiterentwickeln. Dann wird es immer noch essentiell sein, dem treu zu bleiben, was man tun will. Ballroom kann dich ein Leben lang begleiten oder nur eine vorübergehende Phase sein. Doch das Schöne daran ist, dass es nicht nur ums Tanzen geht. Man kann auch andere Dinge innerhalb der Community tun, wenn man nicht mehr tanzen kann. Es ist eine Reise, und ich denke, dass die Menschen in Europa langsam akzeptieren, dass die Dinge nicht in der Zeit feststecken.
TISL: Ich weiß nicht, ich bin da realistisch. Ich träume nicht davon, dass sich die Menschheit weiterentwickelt und Frieden einkehrt, dass sie uns immer respektiert, dass sie dies oder jenes macht etc. Vielleicht werden wir wirklich wieder Underground. Denn wenn die Dinge sich weiterhin so entwickeln, dann werden die Menschen uns hassen. Es ist Wahnsinn, was in der Welt gerade politisch passiert. Und das können wir nicht einfach ignorieren. Ja, vielleicht denken die Leute immer noch, dass wir Underground sind, und lassen sich von uns inspirieren. Ich mache mir Sorgen um die Zukunft in zehn Jahren, wenn wir unsere Kinder nicht dazu erziehen, es besser zu machen, besser zu wählen, ja überhaupt wählen zu gehen und wenn wir uns nicht zusammenschließen. Wir müssen herausfinden, wie wir diese Zukunft gestalten wollen. Da glaube ich an die Worte von Whitney Houston: „I believe the children are our future.”
(lacht) Arbeit!
NSL: Darum ist es so wichtig, anzuerkennen, dass wir Künstler:innen in einer Community sind und nicht nur auf einer Wettbewerbs-Plattform.
TISL: Ja, absolut.
NSL: Wenn man das erkennt, sind diese Leute wie ein lebendiger, atmender Körper, der zufälligerweise zu den Competitions zusammenkommt. Wir sind in erster Linie eine Community. Wir haben Bedürfnisse und Wünsche und allen diesen Dingen sollte man gerecht werden – vor allem auf politischer Ebene. Es wird, genau wie du sagtest, ganz schön irre da draußen. Es ist ja hier schon ziemlich verrückt, darum kann ich mir nur vorstellen, wie es an anderen Orten zugeht. Ich weiß nur, wie es in New York und den USA aussieht. Und es wird langsam beängstigend.
TISL: Vielleicht. Ich meine, wir hatten hier gerade Europawahl. Und die Rechtsaußen-Parteien gewinnen an Macht, Baby. Sie werden stärker. Unsere Rechte stehen auf der Kippe, unsere Körper, unsere Freiheit. Unsere Gigs stehen auf der Kippe. Und ganz ehrlich: Ballroom wird es am stärksten zu spüren bekommen. Denn: Wer sind wir? Wir sind die Girls. Wir sind wie ein Revolver mit Spannabzug…
NSL: …aber es tröstet. Es tröstet, zu wissen, dass im Grunde genommen das, was mit euch da drüben passiert, hier auch passiert, denn unsere Rechte werden definitiv… Diese Wahl wird großen Schaden in den USA anrichten. Großen Schaden. Im Gesundheitswesen oder dass du nur wegen deiner Hautfarbe gefeuert werden kannst, oder weil du queer bist oder eine Frau oder etwas anderes. So viele Dinge hängen im Grunde davon ab, wie wir abstimmen.
Ich danke euch sehr. Bei der Erziehung, Ivy, stimme ich dir zu. Das wollte ich gerade sagen. Ich weiß nicht, was in zehn Jahren sein wird, aber ich weiß, wir müssen uns stärker auf den Community Aspekt konzentrieren, denn durch die Sozialen Medien geht es vermehrt um Wettbewerb und Konsum, ja, einfach um mehr Konsum.
TISL: Ich meine, ich liebe es, die Girls beim Voguing zu sehen. Ich schau mir die Girls gerne an, aber darüber hinaus schätze ich eine Bitch, die nicht auf den Mund gefallen ist, die ihre Gedanken ausdrücken und ihre Rechte verteidigen kann.
NSL: Die Leute können sich beim Wählen/Voguing für eine Sache einsetzen. Oder? (lacht)
Dann hätte ich speziell für dich, Nekia, zwei Fragen.
NSL: Ach!
Eine, denke ich, bezieht sich eher auf die amerikanische Ballroom-Szene. Warum, würdest du sagen, ist Struktur für die Jugend dort so wichtig?
NSL: Du hast gefragt, warum Struktur für die Jugend so wichtig ist? Und was war das zweite?
Genau, warum ist Ballroom so ein zentraler Raum in den USA? Wie sind die Strukturen, vor allem für Jugendliche? Von außen betrachtet sieht es so aus, als wäre das im Moment das Besondere an New York: die Kiki-Szene und dass da eine andere Vision dahinter steckt oder dahinter steckte.
NSL: Erst kürzlich hab ich das Interview von Naomi mit Queen Crazy Sexy Cool gesehen und es ist schon verrückt, wie viele Leute Ballroom entdecken, wie viele darauf kommen durch… hmm… Ich bin am Geburtsort der Kiki-Szene dazugekommen, einem Ort für Jugendliche. Die Bar wurde größer und die verschiedensten Dinge fanden dort statt. Das hat für Struktur gesorgt, hat uns aber auch einen Raum gegeben, an dem wir alles über psychische Gesundheit und die Community gelernt haben – all diese Sachen speziell für queere Jugendliche. Ich war schon Teil der Kiki-Szene unten im Süden gewesen, als ich hier dazugekommen bin. Im Süden ist es ein wenig anders als hier, wo die Dinge sich eher am Original orientieren. In meinem Haus gibt es 13-/14-Jährige. Für mich ist das ziemlich verrückt, aber man lernt Dinge, die man vielleicht noch nicht getan hat, bevor man zum Ballroom gekommen ist. Man bringt den Kids bei, die Leute, die älter sind als sie, mit Respekt zu behandeln. Sie lernen, wie man zu ihnen spricht, zu Personen, die sie anhimmeln und zu denen sie aufschauen. Ja, wegen ihres Talents. Aber wenn du sie unter dir hast, kosten sie viel Energie. Und dann begreifen sie: „OK, ich weiß, ich kann nicht einfach irgendwie mit dieser Lady sprechen. Auch wenn das meine Mutter ist. Sie ist immerhin meine Führungsperson. Das wird einmal meine Haus-Mutter und das wird einmal mein Haus-Vater Darum kann ich nicht irgendwie mit ihnen sprechen.“ Wenn beispielsweise Wert auf gute Noten gelegt wird – und das hängt von deiner Führungsperson ab – dann hören sie sogar darauf. Sie hören auf die unterschiedlichen Leute, die man ihnen als Leiter:innen mitgibt. Man kommt in das Leben von diesen Kids und leitet sie an. Und es braucht ein Dorf, es hat schon immer ein Dorf gebraucht, überall auf der Welt… Es braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen, und wir sind auch einfach nur ein weiteres Dorf, das hilft, ein Kind großzuziehen, und einen Raum bereitstellt, in dem das Kind als kreative Person wachsen kann. Ich selbst hatte nie so einen Ort. Und dass diese Kids jetzt schon, mit 13 Jahren, damit anfangen können – wie großartig und talentiert werden sie dann erst mit 17, 18 Jahren sein! Ich habe wortwörtlich gesagt: „Sie wird einmal Schamanin.“ Die Lady, die ihr beigebracht hat: „Row, job, all this, everyone, do 360, real quick.“ Und genau das hat sie gemacht. Schon mit 13 Jahren. Jetzt ist sie in ihren 30-ern. Sie hat mit ihrer natürlichen Leidenschaft Karriere gemacht. Sie wollte es. Und sie hatte einen Ort, an dem sie das tun konnte. Für mich fühlt es sich so an, als würde ich reinkommen und etwas über Struktur lernen. Es gibt diverse Orte, wie z. B. Schule, Arbeit oder ähnliches, an denen man Struktur erfährt, und vielleicht stellt man dieses System in Frage. Das hier aber ist der Ort, an dem du freiwillig bist. Du willst hier sein und dadurch erfährst du Struktur. Du pflegst Hobbies oder Freizeitaktivitäten, investierst Zeit in all diese Sachen und das gibt deinem Leben eine Struktur. Es hilft dir, ein besserer Mensch zu werden. Unterm Strich helfen dir diese Community, die Menschen, der Wettbewerb, der Ort – wenn du das willst – zu wachsen und eine bessere Version deiner selbst zu werden. Ja, hier kann man eine bessere Version von sich selbst werden, yeah. Danke.
Worauf freut ihr euch?
NSL: Ich freue mich darauf, all die Leute zu sehen, die mich unterstützt haben. Ich denke immer an die Zeit zurück, wo man mich langsam öffentlich wahrgenommen hat. Die Leute in Deutschland waren mit die ersten, die bei meiner Geschichte mitgingen. Sie haben mich gerepostet und auf Deutsch drauflos gechattet – und ich spreche kein Wort Deutsch. Ich so: „Wow! Sie gehen drauf ab!“ Im Lauf der Zeit hab ich’s in immer mehr Ländern versucht. Ich flippe einfach aus, wenn ich die Leute treffe, die auf das stehen, was ich beim Ballroom einbringe. Ich kann’s kaum abwarten, alle Sehenswürdigkeiten abzuklappern und alles aufzusaugen. Ich bin total aufgeregt, Europa zu bereisen. Wirklich.
TISL: Ich musste eben meine Hand heben. Nicht, weil ich etwas sagen wollte, sondern, weil du von all den Leuten gesprochen hast, die dich lieben und dich hier sehen wollen – und ich dachte sofort: „Ich, ich, ich, ich, ich!“ (Gelächter)
Ivy, für dich habe ich auch zwei Fragen.
TISL: Nun ja.
Welche Herausforderungen, Schwierigkeiten und belohnenden Momente hast du, als Vorreiterin in Zürich, in der Schweiz, erlebt, während du völlig eigenständig eine Community aufgebaut hast?
TISL: Nun, eine große Schwierigkeit ist: Man muss sehr, sehr resilient sein. Sehr, sehr resilient. Die Herausforderung liegt darin, anderen Menschen zu zeigen, dass Ballroom nicht nur ein kleiner Gig oder ein kleines Highlight für ein flüchtiges Tanz-Phänomen ist. Man muss die Menschen umerziehen. Sie müssen Ballroom als ein Kunstwerk sehen, als das Vermächtnis vieler. Genau. Man muss es ihnen begreiflich machen, muss einen Pakt mit dem Teufel schließen. Das ist hart. Aber man muss tun, was man eben tun muss, Babe. Wenn man hier als eine BPoC und trans Person ankommt, glauben die Leute erstmal nicht, dass man überhaupt irgendetwas erreichen kann. Als ich dann Ballroom etabliert hatte, meinte alle: „Was ist das? Oh, mein Gott!“ All das zu widerlegen und immer Respekt einzufordern, war einfach harter Shit. Und da spreche ich noch nicht mal von den Kids. Die Kids sind meine Freude. Im Grunde geht es um die Wahrnehmung und die Beurteilung durch die White Supremacy – die Vorherrschaft der Weißen. Für eine Person, die wie ich ist, die das tut, was ich tue, ist White Supremacy das Schlimmste, wenn man in der Ballroom-Szene Pionier:innen-Arbeit leistet – so wie vieles andere als Schwarze Person in einem weißen Land. Aber ja, man muss dem die Stirn bieten. Man muss einen Pakt mit dem Teufel schließen. Manchmal muss man ein Arschloch schlagen. Und das sind die härtesten Konfrontationen, denn du solltest dich einfach nicht mit solchen Dingen auseinandersetzen müssen. Das ist abgefuckt.
Wie geht es dir damit, dich immer rechtfertigen zu müssen?
TISL: Man muss sich immer rechtfertigen, einfach rechtfertigen.
Du weißt, dass das Endprodukt super ist. Du wirst es lieben.
TISL: Ja, ich bin gerade sehr froh, an einem Punkt zu sein, wo die Leute langsam erkennen, wie unbezahlbar es ist, bei Ballroom mitzumachen – vor allem für mich, die Ballroom in diese Region gebracht hat. Übrigens weiß Mutter, dass ich, sobald diese Publikation veröffentlicht ist, auch meinen Kunst-Preis gewonnen habe. Das sag ich zu Nekia, denn sie hat ja ihren Kunst-Preis, sie ist anerkannt, nicht wahr? Sie ist eine Künstlerin, Bitch, sie hat sich ein Repertoire aufgebaut. (lacht) Aber das ist erst der Anfang – wegen meiner Kids. Meine Kids haben mir alles gegeben. Und ich habe alles für diese Arschlöcher gegeben. Leute kamen und gingen, doch die besten sind geblieben und das ist einfach fantastisch. Ich liebe es, wenn ich sehe, wie sich meine Kids beim Ballroom, aber auch menschlich weiterentwickelt haben. Ich liebe die Arbeit als Mentorin – nicht als Lehrerin, sondern als Mentorin. Denn zu lehren setzt voraus, dass man schon alles weiß. Ich aber liebe es, nichts zu wissen und zusammen mit meinen Kids dazuzulernen. Wir finden einen Weg, der für uns funktioniert. Es ist auch gut für die Community, wenn wir zeigen, wie wir zusammen wachsen. Es ist einfach wunderbar. Ich liebe es, mit ihnen eine Verbindung zu haben.
NSL: Was mir meine Reise sehr erschwert hat, war die Tatsache, dass mir die Welt dabei zugesehen hat. Als wir so Mainstream wurden, dass man den ersten Teil meiner Transition nicht wirklich mitbekommen hat… Trotzdem gibt es noch ein paar Clips und so. Denn ich bin im Grunde mit Ballroom groß geworden. Viele halten mich immer noch für das Baby, weil ich mit 17/18 Jahren dazugekommen bin und sie mir beim Wachsen zugesehen haben. Jetzt, 2024, sehen nicht nur wir diese Kids größer werden, sondern die ganze Welt kann ihr Talent anerkennen und ihr Wachstum mitverfolgen. So sehr die Leute sich auch für Gesetze und Projekte zum Schutz von Kindern einsetzen – ihnen ist überhaupt nicht bewusst, wie sehr auch wir als Community an diese Kids denken.
Ivy, du stehst an der Spitze und bist eine der Vertreterinnen von non-binären (NB) Kategorien beim europäischen Ballroom. Kannst du das etwas ausführen? Warum sind diese Kategorien so wichtig? Welche Herausforderungen sind dir bei der Umsetzung und der Teilnahme an diesen Kategorien begegnet?
TISL: Für mich ist der Diskurs um NB und GNC Kategorien sehr wichtig. Denn mit der Zeit haben wir, die Kids, begriffen, dass Transition vieles bedeuten kann. Es geht nicht darum, in eine bestimmte Form zu passen. Es gibt dieses wunderbare Spektrum und wir feiern diese Diversität. Wir respektieren die Generationen von Fem Queens, die vor uns da waren. Wir ehren ihr Vermächtnis. Gleichzeitig jedoch gibt es viele andere Körpertypen in diesem nahezu unendlichen Spektrum, mit denen die Leute ihre Wahrheit ausdrücken können. Und das passt manchmal eben nicht in die binäre Norm.
Ich fühle mich empowert, denn ich kann auf die Art und Weise dazu beitragen, wie auch immer ich will. Ich entwickle mich permanent weiter und das weiß meine Community. Ob ich jetzt ein paar Tage lang meine feminine Seite auslebe oder eine eher maskuline Energie ausprobiere oder irgendetwas zwischen Butch und Queen – all das gehört zu diesem Spektrum. Es gibt Kids, die sich in dieser Diversität wiederfinden, und da ist es wichtig, sie zu schützen und zu feiern. Wir können sie nicht einfach verstoßen oder ihre Existenz leugnen. Ich bin nicht strikt dafür, dass sich jeder Ball explizit um non-binäre oder gendernonkonforme Personen dreht oder dass es eine Quote für die Kategorien geben sollte. Trotzdem können wir diese Kids nicht mit dem Gefühl nach Hause schicken, dass Ballroom nichts für sie ist, nur weil sie nicht in die herkömmlichen Schubladen „X, Y, Z“ passen. Unser Alphabet hat so viele Buchstaben und wir müssen allen einen Raum geben. Mir war wichtig, diesen inklusiven Raum zu erschaffen. Das hat viele Kids zu uns gebracht, Kids, die ihren eigenen Weg durch die Transition gehen. Sie begreifen, dass es dabei nicht darum geht, irgendwo anzukommen, sondern darum, die fortdauernden Entwicklungen im Leben anzunehmen. Meine Erfahrungen haben nochmal gezeigt, wie wichtig es ist, diesen Raum aufrecht zu erhalten, und dafür brenne ich. Darum habe ich ein Manifest geschrieben, das Menschen auf der ganzen Welt angesprochen hat – von Europa bis Brasilien, Asien und Australien. Das Manifest herauszugeben, hat mich ziemlich gefordert, war aber wichtig, um Diskussionen anzuregen, Traditionen zu bewahren und gleichzeitig die Chancen für andere auszubauen. Manche argumentieren jetzt vielleicht, dass es schon immer non-binäre Personen gegeben hat – und, ja, diese Leute haben Recht. Genau deshalb ist es so wichtig, sie formal zu benennen und anzuerkennen. Es geht darum, diesen Identitäten, die oft übersehen worden waren, Respekt zu zollen und ihnen Schutz zu gewähren. Mein Weg, auf dem ich mich für die Gen Z eingesetzt habe, war wertvoll und herausfordernd. Mir sind die unterschiedlichsten Meinungen begegnet – die einen waren voller Zuspruch, die anderen eher weniger – und ich habe die Intensität dieser Gespräche gespürt.
Trotzdem habe ich nicht aufgegeben. Denn am Ende des Tages fühle ich mich den Kids gegenüber verpflichtet, die ich als Mentorin betreue und fördere. Sie sind der Grund, warum ich den Kampf für Inklusion und einen Raum innerhalb der Ballroom-Kultur weiterführe. Ich bin nicht für die Kritiker:innen da, sondern für meine Community. Um es einfach auszudrücken: Lasst uns alle so sein, wie wir sind – ob innerhalb oder außerhalb der Ballroom-Szene. Punkt.
Vielen Dank, dass du das mit uns geteilt hast. Ich merke, dieses Thema erfordert sehr große Geduld. Es wirkt, als wären viele Leute ungeduldig – vor allem die Gegner:innen. Sie fordern eine sofortige Erklärung, eine schnelle Antwort: „Gib mir jetzt eine Blaupause!“ Aber wie kann man bitte die Blaupause von etwas haben, das noch völlig neu ist, oder? Punkt.
Möchtet ihr noch etwas sagen, über das wir noch nicht gesprochen haben?
NSL: Ich kann es kaum erwarten, euch alle beim Zulu C*nt Clinic Workshop zu sehen.
TISL: Ich werde auf jeden Fall da sein.
Autor: Deniz Bolat