Im Gespräch mit ANNE TERESA DE KEERSMAEKER, Schöpferin von Y in Zusammenarbeit mit Alain Franco, dem Museum Folkwang und der Ruhrtriennale. Choreographin, Tänzerin und Gründerin von Rosas. Das Interview führte Anita van Dolen, Kuratorin des Festivals im Bereich Tanz. 

In den 45 Jahren seit Ihrer Gründung von Rosas haben Sie 65 Arbeiten für Theaterräume und Museum geschaffen. Von der Black Box in den White Cube –warum ist es Ihnen wichtig, Arbeiten fürs Museum zu entwickeln? Was bedeutet das für Ihre künstlerische Praxis? 

Im Laufe der Zeit ist mir bildende Kunst immer wichtiger geworden. Diese Reise begann, als mich das MoMA, New York, 2011 einlud, Violin Phase aufzuführen. Es folgten Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich in der Tate Gallery of Modern Art in London im Jahr 2012, woran sich eine Einladung des WIELS, Brüssel, anschloss, das Tanzstück Vortex Temporum für einen Museumsraum oder einen White Cube neu zu konzipieren. 

Denkt man eine Choreographie als das Organisieren von Bewegung in Zeit und Raum, entdeckt man schnell, dass sich im Museumskontext viele Aspekte anders verhalten: Die Frontalität des Theaters wird ersetzt durch eine multifokale Herangehensweise. Details werden sichtbarer. Zeitliche Aspekte, wie beispielsweise Dauer, Linearität, Anfang und Ende, werden hinterfragt und das Verhältnis von Darsteller:innen und Publikum verändert sich. Die klangliche und visuelle Wahrnehmung wird anders erlebt. Dies eröffnet mir als Choreographin, den Tänzer:innen und den Zuschauenden viele neue Perspektiven. Museen offerieren fließendere Räume für alle Beteiligten. Die Anwesenheit von Tageslicht und die Abwesenheit starrer Grenzen zwischen Bühne und Publikum ermöglicht einen wesentlich freieren Austausch. 

Als Reaktion auf die Einladungen der Museen habe ich unterschiedliche Konzepte erforscht, habe eine Arbeit, die für eine Black Box entwickelt wurde, für einen White Cube umgestaltet oder mit einer bestehenden Ausstellung oder einer bestimmten Sammlung interagiert – mit Skulpturen in der Fondation Beyeler, Basel, oder (historischen) Gemälden im Louvre, Paris. Bei der Zusammenarbeit mit dem Museum Folkwang und der Ruhrtriennale haben wir erstmalig eine Ausstellung kuratiert. Sie umfasst Gemälde, Skulpturen und Fotografie. 

Der Ausgangspunkt des Projekts ist das Portrait de Faure dans le rôle d'Hamlet (Portrait von Faure als Hamlet, 1877) von Édouard Manet. Weiter geht es mit den Gemälden Prometheus Bound (1952) von Barnett Newman, Frau vor der untergehenden Sonne (um 1818) von Caspar David Friedrich und Untitled (White, Pink and Mustard) (1954) von Mark Rothko. Wir bringen diese Bilder zusammen, Figuration und Abstraktion gehen ineinander über in einer Ausstellung, die alle neun Räume der Ausstellungshalle für temporäre Ausstellungen des Museum Folkwang umfasst. Diese Anordnung ist unglaublich inspirierend und wir sind gerade dabei, eine Linie zu entwickeln, die Gemälde, Skulpturen, Bewegung, Tanz und Klag miteinander verbindet. Ich arbeite mit dem Musiker und Komponisten Alain Franco zusammen, der mich auch im Louvre begleitet hat. Diese Partner*innenschaft erlaubt es mir, weiter meine eigene Praxis in Bezug auf die Kunstform zu entwickeln, die seit vielen Jahren schon mein wichtigster Partner war: Musik. 

Indem man die Bilder betrachtet und auswählt – hat man da schon sofort eine Idee für die Choreographie? Wie haben Sie die Arbeit mit den Tänzer:innen im Studio begonnen?

Nach einer umfassenden Recherche der Sammlung des Museum Folkwang und der Auswahl der Schlüsselwerke haben wir ins Tanzstudio gewechselt, wo wir den Museumsraum mit Kopien der Bilder nachgebaut hatten. Dort arbeiten wir sehr akribisch, Schritt um Schritt, Idee um Idee, und entwickeln so einen Rahmen, der auf Energiegesetzen fußt, die von der östlichen Philosophie und geometrischen Mustern inspiriert sind. Aus diesen Perspektiven heraus analysieren wir Kunstwerke, Musik, Bewegung und Text. Unterschiedliche Elemente, die das Auge und das Ohr einnehmen, kommen zusammen. Wie interagieren sie, wie wechseln sie ihre Eigenschaften? Das mag unklar klingen, doch für mich ist es extrem konkret. 

Y ist der Titel Ihrer neuesten Arbeit – worauf bezieht er sich? 

Y bezieht sich in erster Linie auf die Idee der Frage. Ich glaube, das Fragen stellen ist in diesen komplexen und turbulenten Zeiten eine der wenigen Handlungen, auf die wir bestehen können und müssen. Es ist unsere moralische und ethische Pflicht. Darum haben wir Hamlet zu unserem Ausgangspunkt gemacht. Am Anfang steht die berühmte Frage ‚Sein oder nicht sein?‘. Tiefgründige Fragen haben oft keine klaren, endgültigen Antworten. Es ist eine Notwendigkeit, sie immer wieder zu stellen. Diese Hartnäckigkeit ist sehr wichtig, denn nur so setzen wir uns kontinuierlich mit der Komplexität unserer Welt auseinander. Eine Sorge, die uns gegenwärtig umtreibt, ist die Tendenz, grob vereinfachende Antworten auf zutiefst komplexe Probleme zu geben. Als Künstler:innen und Bürger:innen ist es nachvollziehbar, dass wir uns oft angesichts dieser komplexen Wirklichkeit überfordert und machtlos fühlen. Dennoch wird gerade in solchen Momenten unsere Verantwortung klar: dem Drang zu widerstehen, komplexe Wirklichkeiten zu simplen Narrativen zu reduzieren. 

Glauben Sie, dass der Körper in Bewegung eine wichtige Rolle in dieser Komplexität aus Fragen und Antworten einnehmen kann? 

Schlussendlich glaube ich, dass der Tanz die zeitgenössischste aller Kunstformen ist, denn: Was ist präsenter und zeitgenössischer als der Körper? Er ist das ‚Haus‘, in dem wir aufwachen, und das Medium, durch das hindurch wir die Welt am unmittelbarsten erfahren. In gewisser Weise ist der Körper in Bewegung ein Feiern der Menschlichkeit: Er vereint das mechanische, soziale, rituelle, emotionale und spirituelle. Im Kern geht es darum, eine verkörperte Energie entlang zweier Grundachsen zu verteilen: der vertikalen (Kontrolle über die Wirbelsäule) und der horizontalen (siehe: Hamlet „Sterben – schlafen“). 

Welche Rolle spielt die Musik in dieser Arbeit? 

Die Musik war immer meine erste Partnerin. Im Bereich der bildenden Künste ist der Einsatz von Sound und Musik stets eine Herausforderung. Museen sind – wie Kirchen –traditionellerweise Orte der Stille. Dennoch kann die Anwesenheit von Sound die Art, wie wir Dinge wahrnehmen, grundlegend verändern und das, was wir sehen, kann wiederum unser Hören verändern. So betrachtet sind Bewegung und Klang miteinander verflochten. Wie beeinflussen sie sich gegenseitig? Der Klang ist das Organisieren von Zeit, so wie unser Herzschlag und unser Atem die Zeit in unserem Körper einteilen. Rhythmus, Puls und zyklische Muster in kürzeren oder längeren Zyklen oder Wellen sind ein grundlegender Bestandteil unseres Körpers und unserer Wahrnehmung als menschliche Wesen, weil wir ein Teil der Natur sind. Sound ist ebenso verkörperte Energie. 

Autor: Anita van Dolen | 22.8.2024