Interview: Romeo Castellucci
Was, wenn unsere Gegenwart aus dem Unzeitgemäßen hervorginge?
Während zahlreiche Künstler: innen fortwährend die Zeichen der Gegenwart im Repertoiretheater suchen, geht Romeo Castellucci den entgegengesetzten Weg und folgt einer gänzlich persönlichen Annäherung an Racines Mammutwerk Bérénice. Ihm zufolge ist die Unzeitlichkeit bestimmter Theatertexte exakt das, was sie so zeitgenössisch macht. Und hier erklärt er, wie.
Bérénice gilt als der bedeutendste französische poetische Theatertext. Was genau an diesem Text hat Ihr Interesse erweckt?
Ich pflege eine enge, komplizierte und zwiespältige Beziehung zum griechischen Theater. Ich kann nicht behaupten, dass ich es liebe, so wie man auch nicht von sich behaupten kann, dass man die Schwerkraft liebt: Sie existiert. Sie ist unvermeidlich. Das ist alles. Andererseits beunruhigen mich sämtliche Bemühungen von großem westlichem Autor: innen, die griechische Tragödie zu rekonstruieren – weshalb sie mich wiederum stark anziehen. Natürlich kann man sagen, dass solche Bemühungen scheitern, aber genau, weil sie in ihrer Absicht scheitern, sind es großartige Kunstwerke. Ich denke dabei an Racine, Hölderlin, Alfieri und viele andere unumstrittene Künstler: innen, die alle versucht haben, die Tragödie zu rekonstruieren, und vor diesem unmöglichen Unterfangen auf die eine oder andere Weise „kapitulieren“ mussten. Auch in dieser Hinsicht hat mich Racines schwindelerregendes Werk mit der Art, wie es griechische und christliche Kultur verschmilzt, schon immer tief getroffen. Natürlich ist das eine gänzlich unmögliche Verschmelzung, denn wenn es ein Jenseits gäbe, könnte die Tragödie gar nicht existieren.
Ist diese „unmögliche” Verschmelzung von griechischer und christlicher Kultur das, was Sie bei der Wahl von Racines Bérénice zuallererst interessiert hatte?
Ich würde sagen, dass diese unmögliche Verbindung sicherlich das interessanteste Element darstellt. Was ich heute aber essenziell finde –wenn ich das so sagen darf – ist Racines Unzeitgemäßheit. Paradoxerweise macht ihn seine unzeitgemäße Sprache – und die klassische Rhetorik und Theologie im Allgemeinen – absolut zeitgenössisch: eine Betrachtung der Fehlfunktion unserer Zeit. Wir können uns durch seine Unzeitlichkeit unserer Gegenwart annähern und uns dabei im angemessenen Abstand zu unserer eigenen Zeit bewegen. Nur so können wir begreifen, was wirklich zu unserer Zeit gehört – ihre Fehlfunktion. Wir müssen den ausgetretenen Pfad verlassen, um ihren Horizont besser zu sehen.
So gesehen, gehört Racine der Zukunft an, denn er bekämpft Sprache mit Sprache: Hier ist alles Sprache, doch hinter dieser Sprache lauert ein schwarzer Abgrund. Alles, was ausgesprochen wird, wird gesagt, um verborgen zu bleiben. Worte wie Gefährte der Luft. Insbesondere Bérénice ist in dieser Sache wohl das am schwersten zu inszenierende Stück, demzufolge auch das wortgewandteste. Denn hier geschieht absolut nichts: Die Sprache blockiert alles. Die Tragödie jedoch besteht aus eben dieser Blockade. Ich halte Bérénice für eines der monumentalen Werke der menschlichen Kultur – jenseits von französischer Kultur und Zeitlichkeit. Bérénice imponiert mir über Raum und Zeit hinweg ausfolgendem Grund: Alles bleibt fest, gelähmt, immobil, seine formale Schönheit jedoch ist wie ein schillernder und faszinierender Kristall.
Ist diese Kraft der Schwerfälligkeit Ihrer Meinung nach ein Energieantrieb?
Es ist interessant, sich mit dieser Frage zu beschäftigen. Meiner Meinung nach ist die vorherrschende Kraft, die wir in diesem Stück wahrnehmen, in erster Linie eine Bremskraft. Alles wird zurückgehalten oder beschränkt. Die Griechen (und der Heilige Paulus) hatten ein Wort für diese spezielle Kraft: katechon (aus dem Griechischen: das, was zurückhält). Man könnte darum vermuten, dass es einen verborgenen Abgrund gibt – so nahe wie ein fiebriger Schleier, der sich zwischen den Tiefen und der Form erstreckt, zwischen dem Sturz und der Realität. Einerseits gibt es die höfische Sprache, eine gebildete Form, andererseits herrscht in den Lücken Gewalt, Tod und erotisches Blut. Für mich ist es essenziell, am Verhältnis zwischen Form und Chaos, was maßgeblich für Racine ist, zu arbeiten. Roland Barthes sprach von „brouillard de mots“, wie eine Wolke, die jede Figur umgibt, welche am Ende immer allein ist. Die Figur der Bérénice ist ein Denkmal für Gegensätzlichkeit, Einsamkeit und Verlassenheit.
Sie haben Isabelle Huppert damit betraut, diese menschliche Einsamkeit zu verkörpern. Warum sie?
Isabelle ist die Synekdoche der Theaterkunst – weltweit. Sie ist die Schauspielerin per definitionem. Ein definitiver Theatertext braucht eine Schauspielerin, die so radikal ist wie Isabelle. Auf der anderen Seite ist Radikalität der Ausgangspunkt des Textes. Es wird eine Bérénice mit Isabelle Huppert als zentrales Licht des Theaters. Die Idee ist, den wesentlichen Kern des Theaters durch sie auszudrücken.
Das hier ist nicht das erste Mal, dass Sie Repertoiretexte wieder aufgreifen. Oft wirken bei Ihnen die Texte wie durch plastische, klangliche oder visuelle Apparate gesiebt – oder durch Installationen, die jede:n zwingen, anders hindurchzugehen. Ist das die Art und Weise, wie Sie mit Text arbeiten?
Ich denke schon. Es gibt das nackte gesprochene Wort. Doch die Art und Weise wie das Wort dargeboten wird, ist zwangsläufig verzerrt. Nicht das Wort trägt die Bedeutung. Diese formale, absolute Kontrolle, die Temperatur, die Strategie von Wort und Stimme verhindern die Kommunikation, ja verbergen sie. Das Wort wird ebenfalls durch technische Geräte übertragen. Dabei sind meine Gedanken vor allem bei den anderen Figuren um Bérénice, insbesondere Titus und Antiochus.
Wie funktioniert die Anordnung der Figuren?
Bérénice ist der Fixstern. Sie ist der statische und zentrale Chaospunkt. Sie ist der Ursprung des Taifuns, der sie umgibt. Alle Figuren kreisen um sie – was sie herbeigeführt hat. Es wird den kompletten Text von Bérénice geben, während die anderen Figuren verzerrt sind, wie Geister, die Phantomworte von sich geben. Wir werden uns vorstellen können, dass wir in Bérénices Kopf sind oder in einer Person, die glaubt, Bérénice zu sein. Es wird keine historische Rekonstruktion sein. Wie bereits gesagt, für ein theatrales Werk ist Bérénice ein doppeldeutiges Objekt. Wir kennen fantastische neoklassische Versionen davon, insbesondere das Meisterwerk von Klaus Michael Grüber (1984), worin das Wort in seiner ganzen Eleganz auftritt – und in seiner Kälte, wie parischer Marmor. Ich fand diese Aufführung außergewöhnlich. Heute jedoch, denke ich, ist es wichtig, mit einem anderen Feingefühl da ranzugehen. Dann wiederum liegt diese Dunkelheit in Racines Klarheit… Ich zweifle etwas an dem wunderbaren Licht seiner Sprache. Darin liegt auch viel Schatten. Und genau diesem Schatten gebe ich all seine Bedeutung.
Heißt das, dass wir in das geistige und psychische Universum von Bérénice eintauchen werden?
Psychologie ist in der Tat ein Schlüssel, jedoch im Sinne eines tiefen Psychismus, der sämtliche Kategorien überwindet, denn das hier ist nicht im Entferntesten „psychologisches Theater“. Wir begeben uns wahrhaftig ins reale, in die Dunkelheit des Körpers hinein, in all das, was unter der Haut verborgen bleibt. Es wird ein Theater aus echten, falschen und fantasmisierten Körpern sein.
Wie funktionieren Sound und Musik?
Ich werde mit Scott Gibbons zusammenarbeiten. Die Musik, einschließlich Sounds und Lärm, ist fundamental, denn sie drückt das aus, was real ist, und das, was der Definitionsmacht der Sprache entwischt. Wir sind immer „Opfer“ von Musik, die es vermag, durch die abgehärteten Abwehrmechanismen des Bewusstseins zu dringen. Umso wichtiger wird unsere Arbeit an den Stimmen sein.